Kriegsgegner und Kämpfer gegen Halbwahrheiten

Satiriker Karl Kraus 

Ein Exemplar der vom Satiriker Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift «Die Fackel». Foto: Matthias Röder/dpa
Ein Exemplar der vom Satiriker Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift «Die Fackel». Foto: Matthias Röder/dpa

Nachsicht war nicht seine Stärke. Der Satiriker Karl Kraus setzte viele Jahre seine strengen Maßstäbe an Politik, Medien und Gesellschaft. Der Perfektionist mit Kultstatus hatte auch Schattenseiten.

WIEN: «Krieg ist zuerst die Hoffnung, daß es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, daß es dem andern schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, daß es dem andern auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechter geht.» Das schrieb der österreichische Satiriker Karl Kraus 1917 mitten im Ersten Weltkrieg. Angesichts der heutigen Krisen und Konflikte scheint das Zitat von aktueller Gültigkeit. Doch Kraus, der vor 150 Jahren geboren wurde (28.4.), wird nicht an seinen Sprüchen, sondern an seinem Gesamtwerk gemessen: Mit seiner Zeitschrift «Die Fackel» schrieb er sich von 1899 bis 1936 auf 22.000 Seiten die Seele aus dem Leib, kämpfte mit dem Wort gegen Korruption, gegen soziale Missstände, gegen eine ungenaue Sprache und übte Medienkritik.

Kraus (1874-1936) gilt bis heute als Gesellschafts- und Kulturkritiker ersten Ranges. Seine Spezialität: Er war «ein unvergleichlicher Analytiker von Propaganda, Halbwahrheiten und Lügen», sagt der Literaturwissenschaftler, Zitateforscher und Kraus-Experte Gerald Krieghofer. In der ersten Ausgabe der «Fackel» verpflichtet sich Kraus gegenüber einer Öffentlichkeit, «die zwischen Unentwegtheit und Apathie ihr phrasenreiches oder völlig gedankenloses Auskommen findet», zur Aufklärung. Das Motto der Zeitschrift: «Kein tönendes «Was wir bringen», aber ein ehrliches «Was wir umbringen» hat sie sich als Leitwort gewählt.» Fortan richtete Kraus seinen strengen Blick auf - aus seiner Sicht - teils gefährliche Dummköpfe aller Art.

Wohlgemerkt handelt es sich in diesem Moment nicht um eine etablierte Geistesgröße, sondern um einen 25-jährigen Mann mit abgebrochenem Jura-Studium. Woher also die unbescheidene Haltung, über andere als moralische Autorität zu urteilen? «Schon seine Mitschüler haben bei Kraus eine seltsame Aufrichtigkeit festgestellt, mit der er andere vor den Kopf gestoßen hat», sagt die Historikerin und Kraus-Forscherin Katharina Prager von der Wienbibliothek im Rathaus. Der Jugendliche aus vermögendem Haus - sein Vater erfand um 1870 die Papiertüten als Einkaufshilfe und vertrieb erfolgreich ein neues Waschmittel - habe in der Familie Rückhalt gefunden, so Prager. Die finanzielle Unabhängigkeit sei seinem Selbstbewusstsein sicher zuträglich gewesen.

Mit der «Fackel», die von rund 10.000 Leserinnen und Lesern trotz ihrer vielen langen Sätze begeistert studiert wurde, musste Kraus dank einer Leibrente kein Geld verdienen. Genüsslich spießte er darin auf, wenn ein Zeitungsartikel überflüssige Wörter oder Phrasen enthielt. Wenn beim Brand eines Palais in München die Feuerwehr «sofort» ausgerückt sei, sei das doch selbstverständlich. «Feuerwehr ist ohnehin etwas, das sofort ausrückt: das ist ihr wesentliches Merkmal, und es wäre eigentlich nur bemerkenswert, wenn sie es einmal nicht täte, wenn sie also aufhörte, eine Feuerwehr zu sein.» Sein Verhältnis zur Presse war - um das Mindeste zu sagen - angespannt. «Der Untergang der Welt durch schwarze Magie» lautet einer seiner Texte, und mit der «schwarzen Magie» ist die Druckerschwärze gemeint.

Kraus fand gerade im Umfeld des Ersten Weltkriegs Stoff für seine Klagen. In vielen Publizisten habe er «Worthelfer der Gewalt» mit ihren das Grauen beschönigenden Artikeln gesehen, sagt Krieghofer. Als einer der wenigen Intellektuellen verurteilte er den Waffengang von Beginn an.

Ein monumentales Denkmal setzte sich Kraus mit der Anti-Kriegs-Tragödie «Die letzten Tage der Menschheit», an deren 220 Szenen er von 1915 bis 1922 arbeitete. «Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene», so leitete der Autor sein Stück ein. Als Collage von demaskierenden Zitaten schildert es den Alltag im Ersten Weltkrieg detailreich und erschütternd. Auch die Schreckensherrschaft der Nazis habe Kraus hellsichtig vorausgesagt, meint Krieghofer. Sein oft zitierter Spruch «Mir fällt zu Hitler nichts ein» stehe am Beginn einer Polemik von nicht weniger als 300 Seiten gegen den Diktator und seine Helfer in Politik, Justiz, Literatur und Presse, sagt Krieghofer. «Es ist ein ironischer Anfang.» Kraus verlor fast seine ganze jüdische Familie durch den Holocaust.

Der immens produktive Autor etablierte sich auch als Redner. 700 Vorträge in rund 40 europäischen Städten - davon mehr als 100 Vorlesungen in Berlin - hielt er ab 1910. «Der wirkliche, der aufrüttelnde, der peinigende, der zerschmetternde Karl Kraus (...) war der Sprecher», schieb 1936 der spätere Literaturnobelpreisträger Elias Canetti über die denkwürdigen Auftritte. Der Wort-Künstler las aus eigenen oder fremden Werken und schlüpfte mitunter beim Vortrag von Shakespeare-Dramen in alle Rollen. Seine große Liebe zum Theater ist auch durch einen frühen Auftritt als Franz Moor in Schillers «Die Räuber» dokumentiert. «Damals fiel er aber durch», sagt Prager.

Der Satiriker mit Kultstatus hat auch Schattenseiten - was seine Einstellung zu Frauen angeht. Kraus sei zwar publizistischer Anwalt geächteter Frauen wie der Prostituierten gewesen, aber sonst den Geschlechterbildern seiner Zeit verhaftet geblieben, meint Prager, die in der Wienbibliothek den dort gehüteten Nachlass ausgewertet hat. Auch er sehe Frauen als Urgründe der Sinnlichkeit, an denen sich der männliche Geist Erneuerung hole. «Über die Forderungen der Frauenbewegung konnte er zeitweise gnadenlos spotten», so Prager. Wie andere Zeitgenossen in Künstlerkreisen auch habe Kraus zeitweise eine erst 14-Jährige als Freundin gehabt. «Mit 14 Jahren galten Frauen damals als mündig», sagt Prager.

Der Perfektionist der Sprache in Wort und Schrift scheute keine Mühe, seinem Anspruch gerecht zu werden. Bis zu 20 Mal hat er Texte Korrektur gelesen. Dennoch finden sich auf den 22.000 Seiten der «Fackel» laut Prager einige Fehler.

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